Der letzte Nachtwächter

Der letzte Nachtwächter von Datterode, Nikolaus Eyrich, Jahrgang 1871, drehte viele Jahrzehnte bis 1933 allabendlich seine Runden. Von den Kindern seiner Zeit „Vetter Nikolaus“ oder auch „Klimper-Kläus“, von den Erwachsenen „Nikläus“ genannt, war er neben dieser Tätigkeit noch Gemeinde-, Schul- und Kirchendiener und Totengräber. Als „rechte Hand“ des Bürgermeisters trat er im Dorfbild häufiger in Erscheinung als das Gemeindeoberhaupt. Mit dem Lesen und Fremdwörtern soll er Schwierigkeiten gehabt haben, dafür hatte er aber ein sehr gutes Gedächtnis. Nachdem ihm seine Frau die Bekanntmachungen einige Male vorgelesen hatte, brachte er sie auswendig unter die Leute. Bis zu zehn Mitteilungen konnte er sich merken. Einmal hieß es: „Nächste Woche kommt ein Kerle aus Kassel, der guckt die Geländer und Futtermaschinen nach.“ Alle Datteröder wussten damit, dass ein Kontrolleur der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft im Anmarsch war. Zur Sonnewendfeier lud er die Bürger mit folgenden Worten ein: „Heute Abend um zehn findet auf dem Liesewilln eine Sonnewengefeierfinsternis statt, dazu sind alle Einwohner herzlich eingeladen.“ War der Text einmal zu umfangreich oder er gerade auf dem Friedhof beschäftigt, nahm auch seine Frau Luise die Ortsschelle in die Hand.

Seit alten Zeiten war es in Datterode auch üblich, dass die Glocken das neue Jahr einläuteten. Nach dem Läuten sangen die Burschen und Mädchen vom Turm einen Choral. Nun ließ der Ortsdiener, der ja zugleich Küster war, seine laute Stimme erschallen und wünschte allen Einwohnern ein glückliches und gesegnetes neues Jahr. Ganz besonders wurden Pfarrer, Lehrer und Bürgermeister, ja selbst der Besuch in deren Häusern mit Neujahrsglückwünschen bedacht. Dann hieß es etwa so: „Auch der Herr Schwiegersohn mit seiner Familie“, „die Schwiegereltern“, „der Herr Bräutigam“ und „das Fräulein Braut“. Diese „Sonderglückwünsche“ erfolgten teils auf Bestellung und teils auf „Ermittlung“ durch den Ausrufer. Den so beglückwünschten Personen stattete er am Neujahrsmorgen einen persönlichen Besuch ab, um mit Handschlag nochmals alles Gute zu wünschen. Dieses wurde von den vorgenannten Personen gewöhnlich mit einem angemessenen Geldbetrag honoriert. Die meisten Einwohner, soweit sie in der Lage waren, schenkten Lebensmittel. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Glückwünscher auf seiner Runde durch das Dorf mehrmals seine Kötze und die Körbe zu Hause ausleeren musste. Da das Einkommen unseres Ortsdieners klein, die Zahl der hungrigen Kinder groß war, waren die Lebensmittel sehr begehrt. Für die Datteröder ein kleines Dankeschön an den hilfsbereiten und gefälligen Mann, der ja zugleich Nachtwächter war. Ein anderes Dankeschön erfolgte in der Form, dass bei Familienfeiern, Spinnstuben und dergleichen an den Wächter in der kalten Winternacht gedacht wurde, indem man ihm das Schnapsfläschchen, das im dicken Soldatenmantel verstaut war, mit „Nordhäuser“ auffüllte und dadurch für das richtige „Betriebsklima“ sorgte.

In den dunklen, kalten Winternächten „drehte er seine Runden“ von 22 bis 4 Uhr morgens; dabei ließ er alle Stunde sein Hornsignal und seinen Spruch erschallen. Daneben erfüllte er noch so manche Wünsche der Einwohner. Da kam es schon mal vor, dass jemand mit dem „ersten Zug“ von Hoheneiche oder von Bischhausen fahren wollte und deshalb sehr früh aufstehen musste. Da konnte man leicht einmal verschlafen. Um das Risiko auszuschließen, wandte man sich an den Nachtwächter, der dann diesen Weckdienst gern übernahm und ihn auch gewissenhaft ausführte.

Während die Datteröder die Winterruhe genießen konnten, hatte Vetter Nikolaus allerhand zu tun. Da musste er vor Eintritt der Dunkelheit die Dorfbeleuchtung einschalten. Der Schalter befand sich an der damaligen alten Schule auf dem Kirchrain, der Weg vom Gemeindehaus, in dem er wohnte, nach dort war kurz. Vor 1933 gab es viele Nichtsesshafte, die von Ort zu Ort zogen und ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestritten. Diese Menschen hatten ein Anrecht auf eine warme Mahlzeit und eine warme Unterkunft im Winter. Zu diesem Zweck mussten sie sich vor Eintritt der Dunkelheit beim Bürgermeister melden. Dieser beauftragte den Ortsdiener Eyrich, welcher mit ihnen zum Gastwirt ging, der ihnen ein einfaches Mahl reichte. Danach wurden sie zum „Wachhaus“, das einst an der Netra beim Anger stand, geführt. Zuvor hatte jeder Schlafgast einen Arm Holz vom Spritzenhaus zum Heizen zu holen. Nun wurde kräftig eingeheizt, das konnte man an der großen Rauchfahne erkennen, die über dem Häuschen stand. Wenn der Nachtwächter seine Runde drehte, war die Tür verschlossen, sie wurde im Laufe der Nacht nur geöffnet, falls jemand austreten musste. Am nächsten Morgen wanderten die Schlafgäste weiter, nachdem sie den Schlafraum gereinigt und sich selbst gewaschen hatten.

Hier die alten Nachtwächterufe:
Um 22 Uhr (10 Uhr): „Zehn Gebot schärft uns ein, Mensch, wie wird dein Ende sein?“
Um 23 Uhr (11 Uhr): „Elf Apostel bleiben treu, hilf, Gott, dass kein Abfall sei!“
Um 24 Uhr (12 Uhr): „Zwölf, das ist das Ziel der Zeit, Mensch bedenk die Ewigkeit!“
Um 1 Uhr: „Ein Gott ist nur in der Welt, dem sei alles anheim gestellt.“
Um 2 Uhr: „Zwei Weg’ hat der Mensch vor sich, Herr, den rechten lehre mich!“
Um 3 Uhr: „Drei ist eins, was heilig heißt, Vater, Sohn und heil’ger Geist.“
Um 4 Uhr: „Vierfach ist das Ackerfeld, Mensch, wie ist dein Herz bestellt?“

Auch am Sonntag hatte unser Ortsdiener keine Freizeit, denn da musste er um 8 Uhr den Sonntag einläuten und später zum Gottesdienst läuten. Im Winter heizte er auch den Ofen in der Kirche. Während des Gottesdienstes sorgte er dafür, dass der Organist die Orgel spielen konnte, indem er den Blasebalg trat. Da ist es auch verständlich, wenn unser Vetter Nikolaus ab und zu ein kleines Nickerchen machte und den pünktlichen Einsatz verpasste. Das kam aber sehr selten vor.

Schließlich hatte er noch ein schweres Amt zu versehen, indem er auch noch Totengräber war. Unzählige Mal stand er an offenen Gräbern, in denen die Abgeschiedenen ihre letzte Ruhe fanden. Wer kennt die Zahl der Gräber, die er grub? Sie ist beträchtlich, es ist ja ein großes Gräberfeld. Es wird erzählt, dass bei der ersten Beerdigung des Pfarrers Delius die Träger den Sarg nicht richtig herunter gelassen hatten, so dass der Sarg klemmte. Da hat sich unser Vetter Nikolaus kurzerhand in das Grab auf den Sarg gestellt und ist dreimal darauf gesprungen, und dann war der Sarg in der Erde. Der Pfarrer soll sich sehr erschrocken haben.

In ihrer Sitzung am 15.06.1956 bewilligte die Gemeindevertretung zum 90. Geburtstag des Ortsdieners a. D. Nikolaus Eyrich einen Geschenkkorb im Wert von 25,-- DM.

Schließlich kam auch der Tod zu ihm und sein Nachfolger schaufelte das Grab, in dem er seine letzte Ruhe fand. Mag auch das Grab verschwunden sein, geblieben ist die Erinnerung an einen fleißigen und gewissenhaften Mann, der seine Kraft voll und ganz in den Dienst der Gemeinde gestellt hat. Nikolaus Eyrich hat sich um Datterode verdient gemacht.

Vetter Nikolaus war immer ein gutmütiger und gefälliger Mann. Er konnte nur böse werden, wenn Hunde in seine Bekanntmachungen hineinbellten oder die Gänse ihm hineinschnatterten, dann schimpfte er: „Verdammter Köter, beste bahle stelle!“ oder „Verdammtes Gänseveeh!“. Er kannte sich aus im Dorf, auf ihn war Verlass. Nicht nur einmal hatte er auf seinen nächtlichen Runden zur gegebenen Zeit bei dem ein oder anderen Bauern ans Fenster geklopft: „Mach’, deste offstichst, dinne Kuh muss kalwe“ (Mach’, dass du aufstehst, deine Kuh muss kalben). Auch wenn im Dorf irgendwo gefeiert wurde, machte er sich bemerkbar: „Elise, im Keller brennt nach Leecht.“ „Joa, Vetter Nikläus, kumm’ erscht mo ninn und drink änn mett.“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen, der Nachtwächter, Totengräber, Gemeinde-, Schul- und Kirchediener Nikolaus Eyrich.

Neben den Bekanntmachungen gab es für ihn noch viel zu tun. Er läutete frühmorgens zum Unterricht, nachdem er im Winterhalbjahr vorher schon die Klassenräume geheizt hatte. Das dazu benötigte Feuerholz hatte er im Sommer gehackt bzw. gespalten und die benötigten Kohlen im Schuppen gestapelt. Am Nachmittag wurden die Klassenräume gekehrt, das taten vielfach auch seine Familienangehörigen, ebenso das Mittag- und Abendläuten, weil er zu dieser Zeit draußen in der Flur die Wege instand setzte, Wassergräben aushob oder Feld- und Waldwege vom Buschwerk befreite. Am Abend trug er Benachrichtigungen des Bürgermeisters aus oder erledigte andere Wege im Rahmen der Gemeindeverwaltung.

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