Es entsteht auf diese Weise noch für einige Zeit ein gewisses Gleichgewicht, freilich ein recht labiles und äußerst beschwerliches, denn die Wege, die man jetzt zurücklegen muss, sind teilweise enorm. Die Karte zeigt sehr anschaulich den Wirkungskreis der einzelnen Haubenmacherinnen, zugleich aber auch, was der Ausfall einer einzigen in diesem Stadium der Entwicklung für Folgen haben muss. 1930 versorgte eine einzige Frau in Unshausen bei Wabern noch über 20 Dörfer, eine Frau aus Harle 1, eine Frau aus Rockensüß bei Sontra 14. Es ist klar, dass er Ausfall einer dieser Frauen nicht mehr ausgeglichen werden kann, die Tracht ist damit am Ende. Die Auskunft mehrerer Fragebogen aus den Kreisen Rotenburg und Eschwege: „Im Alter von 60 bis 70 Jahren abgelegt, lebt noch“ bezieht sich wohl ausschließlich auf solche Fälle. Freiwillig hat vermutlich keine dieser alten Frauen sich zur Aufgabe der gewohnten Abendmahlshaube verstanden.
Bei den Hauben fällt diese erstarrte Endform und ihr plötzliches Verschwinden am stärksten auf; man braucht nur an die berühmten Spreewälder und Elsässer Hauben zu denken, die ebenfalls solche Apotheosen untergegangener Trachten gewesen sind. Aber auch für alle anderen Trachtenstücke gilt ähnliches, denn schon seit die bäuerliche Naturalwirtschaft im Erlöschen ist, seit rund 100 Jahren also, steht die Tracht überall auf unsicherem Boden. Gewiss hat die Industrie ihre Erzeugnisse gern dem ländlichen Geschmack angepasst, hat Stoffe und Bänder, sortiert nach den speziellen Wünschen der verschiedenen Trachtengebiete, besonders hergestellt und jahrzehntelang geliefert – im eigenen Interesse, es war ein ruhiges, sicheres und einträgliches Geschäft. Ebenso haben Dutzende von Handwerkern ausschließlich für die Tracht gearbeitet. Aber die Tracht wurde damit abhängig von zahllosen Zufälligkeiten, auf die der Bauer keinen Einfluss mehr hatte. Seit der erste Weltkrieg die industrielle Sonderanfertigung von Trachtenstoffen stillgelegt hatte und seit im Handwerk die Herstellung von Trachtenstücken jeder Art nicht mehr als Gesellen- und Meisterstück anerkannt wird, ist mit Ersatz und Neubeschaffung nicht mehr zu rechnen.
Dann tritt ein, was oben beschrieben wurde: Zufälligkeiten wie ein frühzeitiger Tod oder umgekehrt ein langes rüstiges Leben eines einzelnen Handwerkers können den Untergang der Tracht um viele Jahre beschleunigen oder hinausziehen. Wir sehen die Wirkung, aber selten die Ursachen und sind deshalb geneigt, im Ablegen oder in der Beibehaltung einer Tracht noch immer einen bewussten Willensakt zu sehen, wo in Wirklichkeit die Entscheidung schon auf eine ganz andere Ebene verschoben ist.“
Schlussgedanken
Wie Horst Hucke(1) von der Arbeitsgruppe „Ländliche Kleidung im Alkreis Rotenburg des 19. Jahrhunderts“ schreibt, versteht man unter „Tracht“ das, was man trägt. Das „man“ ließe keinen Widerspruch zu. Es fragt nicht, ob es einen kleidet oder ob es Mode ist. Man trägt es, weil es schon die Eltern getragen haben, weil es alle anderen auch so tragen und weil man sich nicht außerhalb der Gemeinschaft stellen darf. Die Tracht gibt Sicherheit in unsicheren Zeiten, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Wissen um Geborgenheit, vorausgesetzt, man stellt sich nicht außerhalb der Dorfgemeinschaft. Tracht hatte also eine Ordnungsfunktion. Sie ordnete Menschen nach Geschlecht, Herkunft, Lebensstufen, Familienstand und Dorfschaften. Tracht unterscheidet Stadt und Land. Tracht unterscheidet Stadt und Land. „Der Städter dünkt sich vornehmer und besser als der Landmann zu sein, er sucht dies im Äußeren zu zeigen und da dieser trägt, was sonst städtisch war, so ist der erstere desto beflissener, sich durch Eleganz und Mode wieder auszuzeichnen.“(2) Hucke führt weiter aus, dass Tracht sich veränderte und immer wieder modische Effekte einflossen. Man versuchte, sich städtischer Kleidung anzupassen. Historisch untermauert Hucke dies mit dem Hinweis auf die Kleiderordnung des Landgrafen von 1773, als dieser verbot, „ausländische“ Produkte wie Kattun und Zitz, Samt und Seide zu tragen und zu verarbeiten, um „der Kleider Pracht“ einzudämmen. Die Verwendung von heimischen Stoffen aus Flachs und Wolle wurde befohlen. Das Verbot traf indes nur die niederen Stände. Inwieweit das Verbot befolgt wurde, ist nicht geklärt. Da Trachten von Generation zu Generation vererbt wurden, fanden sich trotz der Vorgabe des Landesherrn weiterhin Kattunstreifen am Saum der Röcke, was man jedoch nur sah, wenn man den Rock hob!
Vermutlich die zunehmende Industrialisierung mit Arbeitsplätzen in den Städten und das Hineinwirken der „Moderne“ in das Dorf führten zum Auflösen der Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen, so dass auch die alten Kleidungsregeln ihren Sinn verloren. Die Kleidung – auch die Tracht – übernahm Modisches, Städtisches, wurde individuell. Die Tracht verschwand langsam auch aus Datterode. Nur noch ältere Frauen trugen Teile ihrer Tracht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
Die Tracht wurde in Datterode jedoch immer wieder einmal hervor geholt. Zumeist zu Kirmes, wenn die Gewänder mit den prachtvollen Hauben (Bätzel, „Riesdüd’n) für den Kirmesumzug hervorgeholt und der Dorfgemeinschaft präsentiert wurden (vgl. Fotoarchiv). Auch eine Trachtengruppe gab es einmal in Datterode, die sich für viel Geld alte Trachten nachbilden ließ und Volkstänze aufführte.
Im Wesentlichen wird bei der „Tracht“ immer die der Frauen besprochen. Der „Schmuck“ der Frauen stand offensichtlich im Vordergrund. Zu der Kleidung der Männer gibt es insoweit keine Quellen. Die alltägliche Kleidung war die Arbeitskleidung, aber auch der sog. „Hessenkittel“. In der Regel blaues, leinenes Hemd mit Bestickung an Schultern und Ärmeln (vgl. Fotoarchiv).
Die beiden Hochzeitsbilder im Fotoarchiv zeigen, dass die Braut den „Marienzweig“ (Rosmarin) auf dem Kopf trägt, die weißen Bänder sind heute übrigens durch den Schleier ersetzt. In der Hochzeitsnacht wurde der Braut die „Haube“ aufgesetzt: So kam also die „Frau unter die Haube“. Hätten Sie gewusst, dass das Sprichwort hier herrührt?
Die Beschreibung der Tracht durch Luise Gerbing erscheint insgesamt ältere Gegebenheiten und damit authentischere Belege zu beinhalten. Die Aufarbeitung durch Rudolf Helm beschreibt die Momentaufnahme – oder, wenn man so will, wie es sich nach den Feststellungen von Luise Gerbing weiter entwickelte.
Viele Stücke der alten Datteröder Tracht sind wohl verloren. Ein aktueller Aufruf in Datterode, dem Heimatverein noch vorhandene Trachtenteile zur Dokumentation zugänglich zu machen, brachte nur wenig Resonanz. Gleichwohl ist noch einiges vorhanden, so dass wir hoffen, das ein oder andere Stück auch an dieser Stelle und im Fotoarchiv darstellen zu können.
Wenn Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, noch Trachten oder Trachtenteile in Datterode oder dem Ringgau wissen, informieren Sie uns bitte. Es wäre schön, diese Überbleibsel alter Zeit zu dokumentieren. Also, ab auf den Dachboden!
(1) Horst Hucke, „Wie kleidete sich die Datteröderin vor 150 Jahren“ in „850 Jahre Datterode“ m. w. N.
(2) Staatsarchiv Marburg: 5. Hessischer Geheimer Rat Nr. 1609