Der Anger und die Angerlinde

„Anger“ (mittelhochdeutsch anger, althochdeutsch angar) bezeichnet ursprünglich ein in Gemeindebesitz befindliches Weidegrundstück (im Englischen heute noch als „village green“ bezeichnet). Das möglicherweise auf altem germanischem Recht basierende gemeinsame Nutzungsrecht lag bei allen Dorfbewohnern. Dieses Nutzungsrecht hat sich bis in die Neuzeit erhalten. Zumeist lag der Anger in der Dorfmitte und  war vielfach eine innerörtliche Freifläche, der Dorfplatz schlechthin – an manchen Orten mit einem Teich verbunden, bei dem ebenfalls der Gemeingebrauch gegeben war. In Datterode gab es im Übrigen einst am Anger den so genannten „Kerschenteich“, der mit dem Erdaushub für den Bau der neuen Schule am Kulleich im Jahre 1901 verfüllt wurde. (vgl. „Aus der Geschichte Datterodes“). Der Anger war Platz der Begegnung (z. B. auch für Kirmesfeiern), Viehweide (insbesondere nachts) und Futterplatz für Durchreisende aber auch Gerichtsstätte. In vielen Fällen befanden sich am Anger auch die Schule und das Spritzenhaus (das alte Datteröder Spritzenhaus stand früher auch am Anger).

Waren Angerdörfer der charakteristische Siedlungstyp der deutschen Ostkolonisation im Mittelalter, trifft diese Bezeichnung auf Datterode und die anderen Ringgaudörfer als Siedlungstyp nicht zu (vgl. „Zur Landschaft und Besiedlung im Ringgaugebiet“). Der Anger war umstanden von Linden – teils mit einer Linde im Zentrum. Auf dem Anger unter der Linde wurde die herrschaftliche Gerichtsbarkeit vollzogen. Teilweise waren steinerne Tische vorhanden, an den für die Dorfbewohner Recht gesprochen wurde oder auch Urteile vollstreckt wurden.

Im „Hessischen Jahrbuch für Landesgeschichte“, Band 51, 20011, lesen wir zu den Dorfgerichtsplätzen im Altkreis Eschwege:

Man legete einen teppech ûf daz gras,
dâ vermûret und geleitet was
durch den schaten ein linde.

 

„Diese Verse aus Wolfram von Eschenbachs um 1210 entstandenen Parzival stellte Karl Frölich, dem wir wesentliche Erkenntnisse über die Dorfgerichtsplätze verdanken, an den Anfang seines Beitrags über „geleitete und gestufte Linden auf hessischen Dorfplätzen“; die Verse beweisen, dass es schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts ummauerte und geleitete Linden gab. Rechtshandlungen unter der Linde (sub tilia) sind in Oberhessen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts urkundlich belegt. Solche Belege gibt es für das Werraland – und damit auch für den Ringgau – nicht. Wenn gleichwohl der Altkreis Eschwege gewählt wurde, so deshalb, weil hier nahezu in jedem Dorf ein „Anger“ mit Dorflinde(n) nachgewiesen werden kann.“

Zum damaligen Amt Eschwege gehörte u. a. auch das Gericht Boyneburg, dem wiederum Datterode angehörte. „Ursprünglich war wohl die Gerichtsstätte auf der Boyneburg selbst, wo sich im 16. Jahrhundert auch ein Gefängnis befand. Galgen als Zeichen für Richtstätten sind in der Mercator-Karte von 1592 nordwestlich der Boyneburg an der Netra und östlich von Netra eingezeichnet.“ Als Flurbezeichnung an der B 7, ca. 1500 m Richtung Röhrda, kennt man übrigens heute noch in Datterode den „Galgenrain“ und den Galgenrainsborn (= -bach). Inwieweit hier tatsächlich eine Hinrichtungsstätte gewesen sein könnte, ist nicht bekannt.

Der Datteröder Anger, der sich heute wieder in einer sehr ansehnlichen Form präsentiert, hat eine über Jahrhunderte währende Geschichte. Die ersten überlieferten Hinweise finden wir „um 1570 zu einem Haus under dem anger, 1636 platz vor der schuelen, der kleine Anger genant; 1629 Haus und Hof beim grossen anger, 1717 Anger, 1787 Gemeinde Anger; heute an gleicher Stelle an der Netra, nicht an der Kirche, 4 junge Linden in flacher Ummauerung. 1844: Der Gemeindeanger (Linde) … ist der einzige öffentliche Platz und dient zur Versammlung der Gemeindemitglieder bei Bekanntmachungen von Gesetzen etc. und als Tanzplatz für die Jugend bei allgemeinen Belustigungen.“

Wenn die Keimzelle des Dorfes um die Kirche herum war (vgl. „Aus der Geschichte Datterodes“), so dürfte zunächst mindestens der o. a. „kleine Anger“ in der Nähe der Kirche existent gewesen sein. Der „Platz vor der Schule“ spricht ebenfalls dafür, da bis zum Abriss (1978) die alte Schule (Nachfolgegebäude wurde an dieser Stelle 1910 erbaut) am Platz vor der Kirche (Kirchrain) gestanden hat und unterhalb davon ein jetzt noch erkennbarer halbrunden Platz liegt.

Durch die zunehmende Besiedlung wich man in die Talsohle aus, wo sich heute der Anger (o. a. „großer Anger“) noch befindet. Während der „kleine Anger“ wohl mit zunehmender Besiedlung an Bedeutung verlor und es auch eines größeren Platzes bedurfte, könnte der „große Anger“ eingerichtet worden sein. So sind jedenfalls die Quellen zu interpretieren.

Der Anger war bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in alter Form vorhanden. Die ihn rings umgebenden Steinquader lagen zwar nicht mehr alle in der Ursprungsform, doch der Baumbestand mit den Lindenbäumen ließen den Platz als solchen erkennen. Die unteren, Richtung Netrabach fehlenden Angersteine waren entfernt worden, um Erntewagen bei Gewitter bzw. Regen zum Schutz unter die Angerbäume fahren zu können. Zudem wurde der Anger auch als Holzlagerplatz und wurde dementsprechend befahren.

Das Umfeld war jedoch sehr ungepflegt, und gerade bei Regenwetter entwickelte sich der Bereich einschließlich des ehemaligen „Kerschenteiches“ zu einer Matschfläche. Im Zuge der Straßenbefestigungen und des in den 60er Jahren einsetzenden „Modernisierungswahnes“, was letztlich auch dem zunehmenden Fremdenverkehr geschuldet gewesen sein mag (optische Dorfverschönerung), wurden Anger und Angerumfeld neu gestaltet. Das ehemalige „Wachhäuschen“ („s’Wachhisschen“), das früher Nichtsesshaften, später auch Heimatvertriebenen als Unterkunft diente, wurde ebenso abgerissen, wie das alte Backhaus („s’Backhüüs“) mit angebauter Viehwaage.

Der Anger selbst wurde seiner uralten Steinquader beraubt und die alten Bäume entfernt. Er erhielt eine moderne, eckige Betoneinfassung und untypische Bepflanzung. Zudem wurde der gestampfte Boden mit Betonplatten (als „Rollschuhbahn“ gedacht) belegt.

Im Zuge der Dorferneuerung Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhundertswurde diese „Bausünde“ mittels Abriss und Annäherung der Angerumfassung und -bepflanzung an historische Wurzeln beseitigt. Die Steinquader, die der Heimatverein von der Hessischen Straßenverwaltung erhalten hatte, wurden zwar zunächst in Waage (zum Teil in den Boden eingelassen) und damit historisch falsch und optisch unansehnlich gesetzt, nach einer entsprechenden Beschlusslage der Gemeindevertretung auf Antrag des Heimatvereins und auf dessen Kosten jedoch wieder geborgen und fachgerecht auf Sitzhöhe positioniert. Die Bepflanzung besteht aus vier Kastanienbäumen in den Farben rot und weiß (den hessischen Landesfarben) an der Ummauerung und einer Linde (vgl. „Die Barnhouse-Linde“) im Zentrum.

Der Anger bildet heute im Verbund mit dem 2002 vom Heimatverein gerichteten Backhaus und dem 2007 erstellten Gänsekerle-Denkmal ein sehr ansprechendes, historisches Ensemble, das das Ortsbild bereichert, wieder Kommunikationsfläche ist und bei den verschiedensten örtlichen Veranstaltungen sehr gern angenommen wird.


1 Hessischen Jahrbuch für Landesgeschichte, Band 51, 2001, „Vorarbeiten zu einem Rechtshistorischen Atlas“ m. w. N.

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