Es hätten Nachbarn sein können ... und es wurden Freunde

Geschwisterpaar aus Buenos Aires zu Besuch

Für einige Tage waren jetzt Santiago Alonso Novo und Schwester Victoria aus Buenos Aires zu Besuch im Ringgau. Langjährige Verbindungen der Familie zu Freundinnen und Freunden im Heimatverein Datterode e. V. (HVD) machten diesen Besuch möglich. Privat untergebracht und betreut, war die Neugier der Nachfahren einstiger Datteröder auf Dorf und Region groß.

Die Großmutter der jungen Leute, Margot Mezger, wurde 1923 als zweite Tochter des Datteröder Getreidehändlers Baruch Löbenstein und dessen Ehefrau Helene im Ringgaudorf geboren. Margot war das letzte in Datterode geborene Kind einer jüdischen Familie. Vater Baruch (bis ins 17. Jahrhundert lässt sich die Löbenstein-Familie in Datterode nachweisen) wurde im Geschäfts- und Wohnhaus der Eltern, heute „Pension Hose“, geboren. Er wuchs im Dorf auf und baute 1912 sowohl ein Wohn- als auch daneben liegendes Lagerhaus mitten im Ort an der Hauptstraße.

Dort lebte die Familie mit den zwei Töchtern bis Anfang 1929, als sie in das ein Jahr zuvor erworbene Haus Friedrich-Wilhelm-Straße 14 in Eschwege umzogen. Baruch Löbenstein führte das Unternehmen von dort aus fort und erweiterte es 1933 um Textileinzelhandel. Im Zuge der Verfolgung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger durch die Nationalsozialisten wurde die ältere Tochter Bella (geb. 1914) nach Inhaftierung im sog. „Schulungslager“ Moringen (Kreis Northeim) bereits Herbst 1935 ins Ausland (Niederlande) vertrieben, von wo aus sie später mit einem der ersten Deportationszüge aus dem niederländischen „Durchgangslager Westerbork“ in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht und ermordet wird.

Margot wird mit ihren Eltern (ihr Vater war im Zuge der Pogrome November 1938 auch im KZ Buchenwald inhaftiert) und weiteren 100 Menschen jüdischen Glaubens aus dem Altkreis Eschwege am 8. Dezember 1941 zunächst nach Kassel und am 9. Dezember von dort nach Riga in das Ghetto deportiert. Die Familie kann noch eine Weile zusammenbleiben, bis das Ghetto geräumt und Männer und Frauen getrennt werden. Der Vater ist offensichtlich mit vielen weiteren Deportierten direkt nach Auschwitz-Birkenau verbracht worden, während die beiden Frauen in das Lager Kaiserwald überstellt werden. Zwangsarbeit und Misshandlung waren tägliche Begleiter, bis die älteren Frauen – damit auch Margots Mutter Helene – von den jüngeren getrennt und ins KZ Stuffhof bei Danzig überstellt werden, wo Helene Löbenstein an den Strapazen verstirbt. Das sollte Margot Löbenstein jedoch erst viel später erfahren. Sie selbst gelangt mit den jüngeren Frauen per Gefangenenschiff von Libau im Februar 1945 ins Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel, von wo aus sie in einem vier Tage dauernden Marsch Ende April 1945 in das sog. „Arbeitserziehungslager Nordmark“ in Kiel-Hassee laufen müssen. Menschen sterben auf diesem Todesmarsch oder werden erschossen. Heinrich Himmler nutzt u. a. diese Gruppe als Faustpfand gegenüber dem World Jewish Congress und dem Schwedischen Roten Kreuz. Von diesen werden die berühmt gewordenen weißen Busse per Fähre von Malmö eingesetzt, um die Menschen abzuholen. So gelangt auch Margot in die Freiheit, als sie am 2. Mai 1945 in Schweden aufgenommen wird. Sie erreicht über den letzten Überlebenden der Familie, dem Bruder ihrer Mutter, Leo Gottlieb, die Immigration in die USA. Der Onkel sorgt unter persönlichen Opfern für ihre körperliche Genesung, ihren Schulbesuch und die Berufsausbildung.

Margot Löbenstein heiratet Ralph Mezger, mit dem sie in das Land ihrer Schwiegereltern nach Uruguay zieht. Sie lassen sich in Montevideo nieder und werden mit zwei Töchtern gesegnet. Mit diesen ziehen sie 1970 nach Buenos Aires in Argentinien. Ihre Töchter schenken ihnen vier Enkel. Margot Mezger, geb. Löbenstein, die letzte in Datterode geborene Jüdin, verstirbt an ihrem 92. Geburtstag, dem 6. August 2015, im Kreise ihrer Familie. Sie hatte ihrer Familie bis kurz vor dem Tod vom Schicksal ihrer Eltern, ihrer Schwester und des eigenen Schicksal nichts erzählt. Sie sprach auch erst im 90. Lebensjahr wieder Deutsch; dann, als sie eine Cousine aus der Schweiz nach Vermittlung des Heimatvereins Datterode einfach in Buenos Aires einmal anrief.

Von den Enkeln besuchten nun zwei die Orte der Vorfahren. Die angenehmen ebenso, wie die traurigen und emotional belastenden. Datterode mit den Häusern der Vorfahren, die immer noch stehen, Eschwege mit dem Haus in der Friedrich-Wilhelm-Straße und den davor verlegten „Stolpersteinen“, den Bahnhof mit dem Deportationsmahnmal, die ehemalige Synagoge, die einstige jüdische Schule, wo die Großmutter von 1929 bis 1937 die Schulbank drückte. Ein Aufsuchen der Gräber von Vorfahren auf den jüdischen Friedhöfen zu Netra, Reichensachsen und Eschwege war selbstverständlich, wie auch Fahrten zu den Gedenkstätten „Schulungslager Moringen“ und Buchenwald. Viele Eindrücke haben die weitgereisten Gäste mitnehmen können, auch von der lebendigen Erinnerungskultur.

Naturgemäß kamen touristische Ziele aber auch nicht zu kurz. Besonders Gedenkorte an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, die herrliche Natur und die nahen historischen Sehenswürdigkeiten in Thüringen, mit Eisenach als Höhepunkt,  beeindruckten sehr.

Beeindruckt waren die Geschwister – trotz der unfassbar schlimmen Familiengeschichte im Hintergrund – aber vom herzlichen Willkommen, dem Dazugehören und ganz besonders von der Einladung zu einem großen Familienfest in Datterode. Wie heißt die Überschrift dieses Artikels: Es hätten ja Nachbarn sein können … und es wurden Freunde.

Auf geschichtlichen Pfaden - teils dramatischer, teils aber auch kultureller Natur

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Werra-Rundschau

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